«Es geht um das Schöpferische – etwas künstlich Lebendiges, um eine
Gegenkraft zur Natur, um ein geistiges über- und Weiterleben gegen
 den Zerfall der Welt, gegen den Tod und die Zeit.» Giuliano Pedretti

Biografie
Giuliano Pedretti, geboren am 23. Februar 1924 in Basel, wächst als ältester Sohn des Malers Turo und der Sängerin Marguerite Pedretti-His in Samedan im Oberengadin auf. Lieder von Debussy und Schubert, Bilder von Edvard Munch und James Ensor prägen den jungen Pedretti. 1942–43 Besuch der Kunstgewerbeschule Zürich.
Wichtige Impulse erhält er von Ernst Gubler, der oft bei der Familie Pedretti in Samedan weilt, Alfred Willimann und Ernst Georg Rüegg. Durch seine Farbenblindheit am Eintritt in die Grafikerklasse gehindert, fasst Pedretti den Entschluss, Bildhauer zu werden. Sein Vater, der in den 1910er-
Jahren im Bildhaueratelier von Richard Kissling arbeitete, bringt ihm die wichtigsten bildhauerischen Techniken bei. 1943 erster Besuch in Maloja bei Alberto Giacometti, den er ab 1953 wiederholt in Paris aufsucht. Die Familien Giacometti und Pedretti sind einander freundschaftlich verbunden; Giuliano Pedretti erkennt in Alberto Giacometti seinen «Massstab».
1949 ist er Stipendiat des neu gegründeten Schweizerischen Instituts in Rom. Am 21. Januar 1951 zerstört eine Lawine das elterliche Haus in Samedan. Pedrettis Jugendwerk geht fast gänzlich verloren; er selber wird bewusstlos geborgen. Nach diesem existenziellen Erlebnis setzt Pedrettis «atemberaubende künstlerische Entwicklung» (Neue Zürcher Zeitung, 8.1.2005) ein. 1952 Bezug des neuen Hauses und Ateliers in Celerina.

Neben seiner bildhauerischen Arbeit engagiert sich der Künstler für die Erhaltung der romanischen Kultur: 1988 Gründung des Kulturarchivs Oberengadin und 1995 Errichtung des Andrea Robbi Museums in Sils Maria. Zahlreiche Sgraffito-Arbeiten an Häusern und Kirchen. Von Jachen Ulrich Könz in die Sgraffitotechnik eingeführt, gilt Pedretti als Experte auf diesem Gebiet. «Es geht um das Schöpferische – etwas künstlich Lebendiges, um eine Gegenkraft zur Natur, um ein geistiges Über- und Weiterleben gegen den Zerfall der Welt, gegen den Tod und die Zeit», notiert Pedretti 1976. – Sein erster Käufer war Georges Bloch, Freund und Sammler von Picassos grafischen Arbeiten.

Am 9. Januar 2012 stirbt Guliano Pedretti an den Folgen eines
Autounfalls.

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Werk
Mit einer unbeirrbaren Folgerichtigkeit untersuchte Giuliano Pedretti, letzter Vertreter der klassischen Moderne, die Probleme der Bildhauerei: Raum und Existenz. Kunst war für ihn nie «Gag». Seine visionären «Schizo»-Plastiken sind in der Kunst ohne Vorbild.

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Das Werk umfasst seit 1940 mehr als 500 Plastiken und lässt sich in Phasen einteilen:

1. «Dreidimensionalität» (1940–1980): in klassischer Manier gearbeitete dreidimensionale Porträts. Seit den 1950er-Jahren rückt Pedretti von der Anatomie ab, modelliert unter dem Einfluss von Auguste Rodin und Medardo Rosso das Licht anstelle des Gegenstandes und entwickelt eine impressionistische Darstellungsweise.

2. «Eindimensionalität» (1980–85): Flache Figuren, aus der Zeichnung entwickelt, werden auf eine Glasscheibe modelliert, abgegossen und als armiertes Positiv frei im Raum aufgestellt.

3. «Dreidimensionalität ohne Volumen» (1985–87): Zwei Seiten einer Figur werden aneinandergefügt; die Figur kann wieder umschritten und nicht nur frontal betrachtet werden.

4. «Von der Vertikalen zur Schräge» (ab 1988): Durch zwei Schrägen, eine seitliche und eine nach hinten oder vorne, erhalten die Werke einen autonomen Raum und stellen den Standort des Betrachters in Frage.
An der Wand fixiert, bringen sie den realen Raum zum Kippen.

5. «Schizo» (ab 2001): Im dynamischen Spätwerk führt die Asymmetrie, die auf der unterschiedlichen Behandlung der Licht- und der Schattenseite beruht, zur effektiven Spaltung der Figuren. Pedretti trennt die Kopf- und Körperhälften durch einen Abstand, eine Leere, die einerseits das Schizophrene im Menschen entlarvt und andererseits zur Entstehung eines gleichsam schwerelosen Volumens führt. 

Ulrich Suter